Saiten Interview «Man fühlt sich ein bisschen weniger ohnmächtig»

Bastian Lehner von «aid hoc» über die Situation in den nordgriechischen Refugee­-Camps, das Zurückkommen in die «heile Welt» und tonnenweise Gemüse.

Bastian Lehner aid hoc st. Gallen
Bild: Tine Edel

Saiten: Letztes Jahr habt ihr den Verein aid hoc gegründet. Warum und wofür?

Bastian Lehner: Wir waren im Sommer 2016 zu fünft für zwei Wochen in Griechenland, um einen Hilfseinsatz zu leisten. Als wir zurückkamen, waren wir uns einig: Das kann es nicht gewesen sein. In diesen Zeiten, in denen die europäischen Staaten in der Flüchtlingspolitik so versagen, muss man handeln. Also gründeten wir einen Verein. Ziel ist es, Menschen auf der Flucht zu unterstützen, die in den Flüchtlingscamps in Nordgriechenland am Rande von Europa ausharren. Wir leisten humanitäre Direkthilfe vor Ort und versuchen, so gut wie möglich auf die dringendsten Bedürfnisse in den Camps rund um Thessaloniki zu reagieren.

Ihr setzt dort an, wo der Staat versagt.


Das ist so. Genau genommen wäre das nicht unsere Aufgabe, aber solange die Politik nicht ins Handeln kommt, braucht es nun mal Hilfswerke und kleinere Organisationen, um die Lücken vor Ort zu füllen. Es ist unglaublich, wie viele Privatpersonen aktuell in Griechenland involviert sind und mithelfen, manche schon seit Jahren. Einige haben ihr ganzes Leben aufgegeben, um vor Ort zu helfen.

Insgesamt seid ihr sieben Leute bei aid hoc, fünf aus St.Gallen, zwei aus Basel. Wer von euch ist zurzeit in Griechenland und wofür?

Jonas Härter hat sein Geschichtsstudium unterbrochen und ist gerade zum zweiten Mal in Nordgriechenland, für drei Monate. Während des letzten Aufenthaltes war er vor allem im Lager Kalochori tätig, wo er zusammen mit der InterEuropean Human Aid (IHA) die Versorgung des Camps und weitere Projekte vor Ort koordinierte. Aktuell arbeitet er wieder mit IHA zusammen und unterstützt unter anderem auch Menschen, die aus den Camps evakuiert wurden. Daniela Güdel reiste Mitte Februar für drei Wochen nach Athen, wo sie bei einem medizinischen Projekt mithalf. Vor kurzem reiste sie weiter nach Belgrad, wo derzeit widrigste Umstände herrschen.

Letzten Dezember habt ihr über 20’000 Franken sammeln können. Wohin geht das Geld?

Wir freuen uns sehr über den grossen Rückhalt. Das tut gut und macht Mut. In der kalten Winterzeit konnten wir die Versorgung mit Feuerholz, Öfen, Thermounterwäsche und Winterschuhen sowie die Unterbringung von besonders vulnerablen Fällen wie Kranke oder Familien mit Neugeborenen in Hotels oder Wohnungen mitfinanzieren. Eines unserer grösseren Projekte ist das Food­Projekt, das wir zusammen mit verschiedenen grösseren Organisationen betreiben. So können wir zusammen für rund 8000 Geflüchtete gesundes Essen abseits des Militär-­Essens gewährleisten – 2016 wurde aus den Spendengeldern von aid hoc 15,2 Tonnen Früchte und Gemüse gekauft. Daneben sind wir noch an weiteren Projekten beteiligt, eines davon ist das Clothes­ Projekt: ein Lastwagen voller Kleider, wo sich die Geflüchteten selber etwas zum Anziehen aussuchen können. So können wir ihnen ein Minimum an Selbstbestimmung zurückzugeben in dieser sonst so fremdbestimmten Situation.

Fühlt man sich als Helfer im Camp manchmal «paternalistisch»?

Natürlich hat das Volunteering immer etwas Bevormundendes, doch paternalistisch habe ich mich nicht gefühlt. Es gibt sicher Leute, die aus ihrem Engagement eine gewisse Bestätigung ziehen. Das kann ich auch nachvollziehen, schliesslich haben manche viel aufgegeben, um zu helfen und sind teilweise schon jahrelang in den Camps.

Wie ist die Situation in Nordgriechenland im Moment?

Schwebend, aber immerhin besser als noch vor einigen Wochen. Die griechische Regierung hat reagiert nach der Krise im Winter: Es wurden viele Camps evakuiert, so dass die Leute nicht mehr in Zelten leben, sondern in Wohnungen oder Hotels. Letztere stehen vielfach leer, weil der Tourismus eingebrochen ist. Ausserdem plant man, wieder mehr Leute von den Inseln aufs Festland zu holen und versucht, die besser strukturierten Camps aufrecht zu erhalten. Bis jetzt sind das aber nur Versprechungen. Ob und wann die Pläne umgesetzt werden, ist schwer abzuschätzen.

Gibt es Beschäftigung, Schulen, Musik?


Es entwickelt sich langsam. Am Anfang ging es um die grundlegenden Dinge: Essen, Kleider, Infrastruktur. Seit kurzem können die Kinder nun in die griechische Schule – ein altes Versprechen, das endlich eingelöst wurde. Das ist okay für den Moment, aber auf lange Sicht braucht es unbedingt echte Zukunftsperspektiven.

Bringt man das im Kopf überhaupt noch zusammen, wenn man nach Wochen im Camp wieder zurück ins «schöne Leben» wechseln kann?

Nicht wirklich. Das Zurückkommen war für mich persönlich auch die grösste Schwierigkeit – zurück in die heile Welt, in unsere super funktionierende Gesellschaft. Das hat mir schon Mühe bereitet, aber damit muss man lernen umzugehen. Im Endeffekt haben uns aber genau diese Widersprüche die Energie gegeben, aid hoc zu gründen. Und nebst dem ganzen Frust tut es ja persönlich auch gut, wenn man irgendwie helfen kann. Man fühlt sich ein bisschen weniger ohnmächtig.

Hat dein Engagement in Griechenland Einfluss auf dein politisches Denken? Die Kritik an der europäischen Abschottungspolitik, am EU­-Türkei­-Deal und am grundsätzlichen Umgang mit Geflüchteten hat uns zwar nach Griechenland geführt, aber wenn man vor Ort ist, geht es primär darum, Lösungen für den Moment zu suchen und die Umstände zu verbessern. In dieser Zeit rückte für mich der Ärger und Unmut über das politische System in den Hintergrund und keimte vor allem nach der Rückkehr wieder auf. Es blieb die Frage nach der Verantwortung der westlichen Staaten: Humanitäre Hilfe wäre eigentlich keine private Aufgabe.

Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.