Erfahrungsbericht – Athen und Belgrad

Daniela Güdel leistete einen dreiwöchigen medizinischen Einsatz in Athen und Belgrad. Sie schreibt in ihrem Erfahrungsbericht sehr eindrucksvoll über die Situation vor Ort.

aid hoc Humanitäre Direkthilfe aus St.Gallen und Basel

Erfahrungsbericht meines medizinischen Einsatzes an der Flüchtlingsroute – Athen und Belgrad

 

Athen – Griechenland

Aufgrund dringlicher Aufrufe nach medizinischem Personal in illegalen Flüchtlingsunterkünften in Athen, beschloss ich im Februar 2017 in die Hauptstadt Griechenlands zu reisen. Aufgrund der zahllosen flüchtenden Menschen ohne Obdach haben linke Gruppierungen begonnen, leerstehende Gebäude wie verlassene Schulen oder Hotels zu besetzen und jeweils einige hundert Flüchtlinge einziehen zu lassen. Diese sogenannten „Squads“ werden jeweils von einer Gruppe unabhängiger, freiwilliger Helfer aus ganz Europa organisiert. Neben Sprachkursen, Kinderspielzimmer, Kleiderbörse etc. findet sich in diesen Gebäuden meist auch eine kleine Klinik. Zusammen mit einer kleinen Gruppe von medizinischen Helfern aus Australien und England habe ich während der ersten Woche in zwei dieser Kliniken täglich für einige Stunden Patienten gesehen. Neben alltäglichen Erkältungen und Verletzungen gab es auch viele chronische Erkrankungen wie Bluthochdruck, Zuckerkrankheit etc. zu versorgen und vor allem deren Therapie langfristig sicherzustellen. Für mich eher Neuland und häufig etwas überfordernd waren die zahlreichen Kriegsverletzungen wie: falsch zusammengewachsene Knochenbrüche, Reste von Bombensplittern oder sonstigen Geschossen im Gewebe und Nervenverletzungen. Häufig kommt es dabei zu Funktionseinschränkungen, chronischen Schmerzen, Geh- oder Arbeitsunfähigkeit. So war es oft nötig für Patienten einen Termin bei einem oder mehreren Spezialisten zu organisieren.
Sprach ein Patient etwas Englisch erhielt man auf die Frage, was das Problem sei, oftmals eine ausführliche Schilderung von Folter- und Kriegsszenen, die einen an die emotionale Grenze brachte.

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Da die Kliniken ausschliesslich durch unabhängige medizinische Helfer betreut werden, wurden eure Spendengelder insbesondere in Medikamente und sonstiges medizinisches Material investiert. So versorgten wir beispielsweise einen Iraker mit einem Fallfuss mit den nötigen Schienen. Seine Nerven, welche für das Anheben des Fusses verantwortlich sind, wurden durch ein Geschoss verletzt, weshalb er mit der Fussspitze beim Gehen überall hängen blieb. Als Konsequenz davon würde der Fuss mit der Zeit in komplett gestreckter Position einsteifen und das Gehen verunmöglichen. Mit einer rechtwinkligen Schiene nachts und einer eleganten einfachen Lösung für tagsüber konnten wir ihm das Gehen längerfristig ermöglichen (siehe Fotos).

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Einige Male ging ich mit Arthur auf Tour. Ursprünglich aus Albanien lebt er seit 6 Jahren in Athen. Dort besucht er 2x wöchentlich ca. 80 Obdachlose im Zentrum von Athen. Die Anzahl Obdachloser hat in den letzten Jahren massiv zugenommen, ca 90% sind in irgendeiner Form Flüchtlinge. Jedes Mal bringt ihnen Arthur mit einem kleinen Team von wechselnden freiwilligen Helfern ein Sandwiches und Tee. In den verlebten Gesichtern machte sich Erleichterung breit, als sie erfuhren, dass an jenen Abenden auch Ärzte dabei sein würden – mit einfachen Behandlungen konnten wir viel bewirken. Die benötigten Utensilien wie Medikamente und Verbandsmaterial habe ich dank euren Spenden kaufen können. Auch Gehstöcke konnten wir einem 60 jährigen Mann finanzieren, der vor wenigen Jahren als Flüchtender nach Griechenland kam. Er wurde durch einen Arbeitsunfall invalide und behielt nach einer gescheiterten Rückenoperation vor zwei Jahren eine Harninkontinenz und Lähmungen in den Beinen zurück, sodass er sich nur mehr mit Gehstöcken fortbewegen kann. Diese wurden ihm jedoch gestohlen und aufgrund des stetigen Liegens bildeten sich offene und entzündete Hautstellen. Wir kauften ihm Unterarmgehstöcke und konnten ihn mit Antibiotika behandeln sowie über Artur eine regelmässige Versorgung mit Inkontinenzeinlagen sicherstellen.

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Im Verlauf der Woche wurde mir klar, dass aufgrund der vielen komplexen und chronischen Probleme der Menschen in den Squads eher Langzeit-Helfer benötigt werden. Glücklicherweise kündigte sich für die folgenden Wochen eine spanische Gruppe medizinischer Helfer an.
Daneben erhielten wir täglich Anrufe aus Belgrad, mit dem Aufruf nach medizinischem Personal und so entschloss ich mich für den Rest meines Einsatzes auf der Flüchtlingsroute nordwärts zu ziehen.

 

Belgrad – Serbien

Das Elend und die Not der flüchtenden Menschen in Belgrad übertraf alles was ich bisher erlebt und gesehen hatte um ein Vielfaches. Die Lager ausserhalb der Stadt seien besser, doch weil immer mehr sich in den Lagern registrierende Flüchtlinge nach Bulgarien ausgeschafft werden, meiden die Menschen diese Camps zunehmend. Die bulgarische Polizei, da sind sich die Flüchtlinge einig, sei das Schlimmste was sie auf ihrer Reise erlebt hätten.
So kam es, dass in den letzten Monaten circa 800 hauptsächlich junge Männer hinter dem Bahnhof von Belgrad strandeten. Die grosse Brache soll in den nächsten Jahren einem neuen Luxusstadtteil weichen, die Bauarbeiten haben bereits begonnen. In einigen leerstehenden alten Baracken haben sich die meist afghanischen, irakischen und pakistanischen Männer, zwischen 16-35 Jahre alt, niedergelassen. Leider leben dort auch viele unbegleitete Minderjährige, der Jüngste war 8 Jahre alt mit seinem 10 jährigen Cousin. Der Winter war eisig, die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt und die Menschen harrten seit Wochen in halboffenen Baracken ohne Schlafsack, Heizung, Toiletten oder richtiger Nahrung aus. Als ich dort eintraf erhielten die Menschen bereits zweimal täglich eine warme Mahlzeit von zwei Helfergruppen – eine davon die mobile Küche von „Hot food Idomeni“, welche ich bereits vor einem Jahr in Idomeni mit euren Spendengeldern unterstützen konnte. Der Abfall und die Exkremente häuften sich hinter jeder Ecke an.

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In regelmässigen Abständen versuchen die Männer die komplett geschlossene Grenze nach Ungarn oder Kroatien zu überqueren. Dazu reisen sie mit dem Zug zwei Stunden zur Grenze. Diejenigen, die noch ein wenig Geld besitzen, bezahlen einem Schmuggler 2500 Euro, um sie nach Österreich zu bringen. Sie werden in grenznahen Raststätten in Lastwagen eingeschleust während der Fahrer seinen LKW kurz unbeaufsichtigt lässt. Da jeder Grenzübergang über einen Röntgenscanner für LKWs verfügt, scheitert dieses Unterfangen praktisch immer. Momentan kommen weniger als 1% illegal über die Grenze. Erwischt sie die serbische Polizei hält sich das Drama in Grenzen, da diese die Menschen einigermassen anständig behandelt werden und in einigen Fällen die Schmuggler ihnen sogar das Geld zurückgeben, meistens aber ist alles verloren. Werden die Menschen hingegen erst durch die ungarische Polizei entdeckt, werden sie gefoltert, mit Schlagstöcken verprügelt und mit Schäferhunden gehetzt. Es wird ihnen alles abgenommen und sie werden oft nackt, blutend oder gar bewusstlos wieder zurück nach Serbien befördert. Auch Todesfälle kommen vor, doch Europa schaut weg. Die Methoden sind immer dieselben, unabhängig ob ein Kind, eine Frau oder ein Mann in deren Hände gerät. Ein 12-jähriger Junge erzählte mir, wie er drei Stunden nackt im Schnee sitzen musste während er immer wieder mit Stöcken geschlagen wurde und sie Hunde auf ihn los liessen.
Da NGOs von der serbischen Regierung verboten werden und man als Arzt ohne Erlaubnis nicht praktizieren darf, mussten wir vorsichtig vorgehen. Als normale Helfer getarnt, zogen wir mit einem Rucksack voller Medikamente und Verbandsmaterial durch die Baracken und halfen so gut es eben ging. Glücklicherweise durfte MSF (Ärzte ohne Grenzen) gerade als wir ankamen endlich eine kleine Klinik eröffnen. So konnten wir schlimmere Fälle relativ einfach dorthin bringen und hielten ihnen den Rücken frei indem wir die leichteren Fälle im Feld behandelten. So gelang es uns auch eine gewisse Zusammenarbeit mit MSF aufzubauen, deren Kapazitätsgrenzen schnell erreicht waren.

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Da es sich fast ausschliesslich um junge, gesunde Männer handelte, therapierten wir vor allem akute Atemwegserkrankungen und mehr oder weniger infizierte Wunden vom letzten „Game“ (so nannten es die Männer, wenn sie versuchten die Grenze zu überqueren, „going for a game“). Beim verzweifelten Versuch sich etwas zu wärmen, verbrannten sie alles, was in deren Hände gelang. Unter anderem die alten, giftig lackierten Bahnschwellen, welche hinter den Baracken aufgetürmt waren. Dadurch entstand in den halb geschlossenen Baracken aufgrund der vielen offenen Feuer ein extrem toxischer Rauch. Viele litten unter Husten und Asthma. Wir selber mussten die Gebäude alle 20 Minuten für eine Pause verlassen, da der Qualm kaum auszuhalten war.

Glücklicherweise gab es seit einigen Wochen regelmässige Holzlieferungen, organisiert durch einige unabhängige Helfer vor Ort. Diese spenden Wärme, bieten Kochmöglichkeiten und reduzieren den toxischen Rauch, weshalb aid hoc drei Holzlieferungen à 350 CHF finanzierte.

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Aufgrund fehlender sanitärer Anlagen breiteten sich leider auch Krankheiten wie die Krätze und Läuse rasant aus. Diesbezüglich konnten wir aber ausser einer symptomatischen Therapie gegen den Juckreiz nicht viel bewirken – die Menschen müssen sich gedulden bis MSF mit ihren Epidemiologen einen grossangelegten Therapie- und Reinigungsplan ausgearbeitet hat. Erschwerend kommt hinzu, dass die sich ausbreitenden Läuse gegen die Standardtherapie resistent sind. Das Trinkwasser bezogen viele aus der defekten, aber anscheinend keimfreien Wasserleitung in einem Schacht.

Nachdem ich auf den letzten Einsätzen mehr Syrer traf, durfte ich dieses Mal viele wunderbare, herzliche und im Umgang sehr angenehme Männer aus Afghanistan, Irak und Pakistan kennenlernen. Es hat mich zutiefst berührt wie diese Menschen die Lebensfreude und vor allem den Humor nicht verloren hatten trotz all des Elends und der Ausweglosigkeit. Wir haben mit ihnen viel gelacht und geweint, wenn jemand uns seine Geschichte anvertraute. Eines Abends organisierten wir einen riesigen Grill, welchen einige Helfer aus halbierten alten Ölfässern schmiedeten. So genossen sie seit Monaten wieder einmal Fleisch zu essen begleitet von lauter Musik aus ihren Heimatländern. Es war ein schöner Abend.
In Sobotica, dem Grenzort zu Ungarn, lebten die bei der Flucht gescheiterten Menschen oft für einige Tage bei Minustemperaturen im Wald. Die Polizei ging dort auch strenger gegen Helfer vor, sodass die Versorgung nur auf sehr tiefem Niveau möglich war. Die kleine NGO „first response“ versucht die Menschen mit Kleidern und medizinischer Nothilfe zu versorgen. Wir haben sie finanziell unterstützt, unter anderem um im Wald eine portable Dusche zu bauen. Einerseits weil die Menschen komplett verdreckt und zum Teil blutig verschmiert von der Grenze zurückkommen, andererseits für den endlosen Kampf gegen Krätze und Läuse.

In der Zwischenzeit konnte eine kleine, längerfristig vor Ort anwesende, internationale Helfergruppe erreichen, von der serbischen Regierung als NGO anerkannt zu werden. Sie versorgen die Leute in den Baracken seit Wochen jeden Abend mit einer reichhaltigen Suppe und führen ein Lagerhaus mit Sachspenden, welche sie täglich an die Neuankömmlinge verteilen. Für den Transport von Hilfsgütern und Nahrungsmitteln benötigen sie dringend einen Van. Wir unterstützten ihr Projekt bisher mit 300 CHF und würden diese Hilfe eventuell auch in Zukunft wiederholen. Wie immer ist es für uns von aid hoc sehr wichtig, uns vor Ort mit vertrauenswürdigen langfristigen Helfern und kleine Organisationen zu vernetzen, um auch in Zukunft den bestmöglichen Einsatz eurer Spenden zu garantieren.

Die 23-stündige Zugfahrt von Belgrad nach Zürich ohne Umsteigen war bitter nötig, um das Erlebte zu verdauen. Es war ein intensiver aber meiner Meinung nach sehr effizienter Einsatz mit wichtiger Nothilfe aber auch Unterstützung längerfristiger Projekte. Sollte jemand von euch Lust und Zeit haben vor Ort auch nur für 1-2 Wochen tätig zu sein, kann ich das nur wärmstens empfehlen und vermittle euch gerne an die richtigen Personen weiter.

Liebe Grüsse

Daniela