Bericht aid hoc/IHA-Einsatz Jonas

Vor viereinhalb Monaten fand ich mich an einem kühlen Wintertag in etwas ungewohnter Gesellschaft von einigen Lastwagenfahrern und Heimwehgriechen an Bord einer Adriafähre wieder. Einmal mehr auf dem Weg nach Griechenland – dieses Mal habe ich allerdings den langsamen Weg gewählt, da ich nun mit einem eigenen „Einsatzfahrzeug“ unterwegs bin, das mir grosszügigerweise zur Verfügung gestellt wurde.

Da ich die Weihnachtszeit und den Beginn des neuen Jahres in der Schweiz zugebracht hatte, plante ich einen weiteren Einsatz zu Gunsten der Menschen auf der Flucht in Nordgriechenland schon von da aus. Die Feststellung, dass es an diesem Ort für mich noch lange viel zu tun geben würde resultierte im Entscheid zur Fortführung meines Engagements. Meine eigenen Erfahrungen aus dem Herbst und der fortwährende Kontakt zu Betroffenen und Helfenden offenbarten insbesondere angesichts des harten Winters eine Eindeutigkeit in dieser Frage, die in diesem Kontext eigentlich keineswegs wünschenswert wäre. Wenn auch die Frage des „ob“ leicht zu klären war, bedurfte die Frage des „wie“ einiger Reflexion. Da sich die Situation in Nordgriechenland über die Wintermonate stark verändert hatte, stand eine Rückkehr zu meiner alten Betätigung im Camp Kalochori ausser Frage. Ein Grossteil der Menschen, mit denen ich dort äusserst intensive Monate geteilt hatte, wurde unterdessen in Hotels oder Wohnungen umgesiedelt und die Schliessung des Camps war bereits absehbar. Zudem hatte sich – glücklicherweise – die Arbeit jener, die Hilfe leisten, nach und nach strukturiert und institutionalisiert. In diese Prozesse galt es also, das Engagement von aid hoc und mir selber einzufügen.

Es erschien mir einerseits wünschenswert, die Strukturierung der Freiwilligenarbeit in den Flüchtlingsunterkünften in Nordgriechenland selbst mitzutragen und voranzutreiben. Andererseits wurde die Flexibilität, ortsungebunden zu sein und schnell die immer zahlreicher werdenden, alternativen Flüchtlingsunterkünfte zu erreichen, zum Gebot der Stunde. In der IHA (InterEuropean Human Aid Association), selbst eine unterdessen etablierte Institution in der Freiwilligenarbeit, die ich bereits aus Kalochori bestens kannte, sah ich eine gute Möglichkeit, diese Ziele zu erreichen. So habe ich mich entschieden, für diese Organisation vor Ort die Verantwortung zu übernehmen – während der ersten beiden Monate zu zweit und dann noch für einen Monat selbstständig. Die Doppelfunktion als IHA-Koordinator und aid hoc-Vertreter vor Ort sollte sich dabei als äusserst vorteilhaft entpuppen.

Das Umfeld, in dem, und die Umstände, unter denen wir nunmehr arbeiten, unterscheiden sich von all dem, was wir damals – letzten Sommer – angetroffen und uns zur Gründung von aid hoc motiviert hatten. Auch wenn der harte Winter nochmals zu neuen Problemen geführt hat, die als Krise verstanden werden können, hat er doch in erster Linie bereits bestehende, strukturelle Probleme verschärft. In meiner Sicht arbeiten wir unterdessen daran, fortwährend bestehende, schlechte Zustände auf lange Frist zu verbessern und nicht mehr daran, eine akute Krise zu bewältigen. Die Notwendigkeit auch dieser – natürlich weniger spektakulären – Arbeit liegt aber auf der Hand und bedingt sich durch die Verantwortung, die man damals für Menschen übernommen hatte und die nicht einfach abgelegt werden konnte, sobald das Momentum der Krise überstanden war. Da meine Verbundenheit zur Arbeit, die wir in Nordgriechenland leisten, und noch vielmehr zu den Menschen, die dort jetzt schon mehr als ein Jahr ausharren, überwiegt, kam und kommt es für mich bis anhin noch nicht in Frage, den Fokus meiner Arbeit auf einen anderen Ort zu verlegen. Umso mehr freut es mich und bewundere ich, dass sich Daniela Güdel im Winter nach Serbien aufgemacht hat, um dort – auf derselben Fluchtroute – ihre und die Hilfe von aid hoc Menschen in einer viel akuteren Krisensituation anzubieten.

Aufgrund des harten Winters wurden die Zustände in den Militärcamps in Nordgriechenland endlich auch für die staatlichen Verantwortungsträger und die grossen NGOs untragbar. Als Bilder von Zeltlagern im Tiefschnee und von Menschen mit Frostbeulen die Runde in der Öffentlichkeit machten, wurde offenbar die Grenze des Duldbaren überschritten. Innert sehr kurzer Zeit ergriff man nun Massnahmen, deren Umsetzung sich bis anhin über Monate hingeschleppt hatte. Wo dies möglich war, wurde die bis anhin träge laufende Umsiedlung vulnerabler Familien in Wohnungen beschleunigt und, als es dann sehr schnell gehen musste, ganze Camppopulationen in Hotels umgesiedelt, damit die Menschen den Winter in geheizten Räumen überstehen konnten.
Seit ich Ende Januar meine Arbeit wieder aufgenommen habe, arbeite ich in einer Situation, die sich langsam normalisiert und sich im Grossen und Ganzen für die betroffenen Menschen deutlich verbessert hat. Dass nun viele derjenigen Menschen, die noch bis in den Winter in Zelten in Camps ausharrten, in ihren eigenen vier bescheidenen Wänden wohnen, ist auf alle Fälle ein grosser Fortschritt. Diese Veränderung hat aber durchaus auch ihre Schattenseiten: Menschen werden aus ihrem sozialen Umfeld gerissen, Kinder aus Schulen wieder abgezogen, zu denen sie endlich Zugang erlangten, und viele finden sich an Orten wieder, die weit abgelegen sind von jeglichen öffentlichen Einrichtungen. Die Umsiedelung von Menschen aus Camps in Wohnungen und Hotels bringt für uns zudem eine Auffächerung der Einsatzorte einher, die es zur Herausforderung macht Notstände rechtzeitig zu erkennen und die Verfügbarmachung von Hilfsgüter erschwert.

Alle Menschen, die letzten Sommer in Militärcamps umgesiedelt worden waren, wurden im Zuge dieser Umsiedlung „vorregistriert“, wodurch sie sich seither in einem offiziellen Prozess befinden. Im Laufe des Spätsommers und Herbstes mussten diese Menschen zu individuellen Interviews antreten, damit die einzelnen Fälle aufgenommen werden konnten. Drei Möglichkeiten stehen in diesem Prozess zur Auswahl: ein Asylgesuch in Griechenland, die Teilnahme am Relocationprogramm oder – sofern ein ausreichend enges Verwandtschaftsverhältnis besteht – der Antrag auf Familienzusammenführung in einem anderen europäischen Land. Diese drei möglichen Wege haben eines gemein: die Umsetzung kommt extrem langsam voran. Der Grossteil der Flüchtenden wartet momentan auf den finalen Termin im Relocationprogramm, nämlich auf den Bescheid, welches Land die Person oder die Familie aufnehmen wird. Dieser letzte Termin mit den griechischen Behörden findet immer in Athen statt und normalerweise bedeutet er auch die temporäre Umsiedelung dorthin, da nach diesem Termin noch diverse Anhörungen auf der Botschaft des Landes, das das Asylgesuch übernimmt, folgen.

Auch die Versorgungssituation von offizieller Seite hat sich unterdessen ein Stück weit normalisiert. Alle registrierten Flüchtlinge erhalten unterdessen eine sogenannte Cash Card, auf der monatlich ein geringer Fixbetrag pro Person zur Verfügung steht. Obwohl die zur Verfügung gestellten Summen extrem niedrig sind, ist diese Veränderung prinzipiell ein Fortschritt, da es somit den Flüchtenden selber überlassen ist, die verfügbaren Ressourcen nach ihrem Gutdünken einzusetzen. Da das Geld aber gerade für Familien äusserst knapp berechnet ist (Windeln beispielsweise sind ja sehr teuer), macht eine ergänzende Unterstützung mit dem Nötigsten in bescheidenen Mengen weiterhin Sinn, da gerade auch frisches Gemüse beispielsweise in der Nähe von Camps/Unterkünften oft nicht leicht verfügbar ist. Der Erwerb von Kleidern kommt mit diesem beschränkten Budget kaum in Frage, weswegen auch die Verteilung gebrauchter Kleider, die wir als Sachspenden erhalten, nach wie vor sehr gefragt ist.

In diesem Umfeld einer sich normalisierenden Situation, in der es in erster Linie darum geht, strukturelle Probleme über längere Frist anzugehen, und darüber hinaus Bereitschaft gehalten werden muss, auf – nunmehr zumeist durch bürokratische Irrungen verursachte – Notfälle zu reagieren, haben wir IHA-Koordinatoren es uns zur Aufgabe gemacht, auch die Arbeit unserer Freiwilligen zu normalisieren. Das bedeutet vor allem, dass wir unsere Aufgabe soweit möglich strukturiert, regelmässige Arbeitszeiten eingeführt und die Planbarkeit verbessert haben. Wenn dann trotzdem schnell unsere Hilfe gefragt ist, stehen wir immer bereit. Ein Beispiel: Als rund zehn Familien von einer Organisation in einen Apartmentblock, in dem es abgesehen von Matratzen kein Mobiliar gab, umgesiedelt wurden, hätten sie aufgrund bürokratischer Verfehlungen ihre Cash Cards erst einige Tage später erhalten. Das bedeutete, dass sie während diesen Tagen keine Möglichkeit hatten, sich Essen zu besorgen. Wir haben den entsprechenden Notruf erhalten, noch am selben Tag warme Decken und etwas Kücheninventar aus dem Warehouse geliefert und über die kritischen Tage für alle ausreichend Essen geliefert, das von aid hoc finanziert wurde.

Was sind unsere Aufgaben? Als mobiles, flexibles und gut verknüpftes Team, das personell relativ gut aufgestellt ist, jedoch im Normalfall nicht über Spezialisten verfügt, übernehmen wir hauptsächlich regelmässige Hilfsgüterverteilungen an entlegeneren Orten, stellen die Arbeitskraft für die Hintergrundarbeit im Warehouse und unterstützen die Arbeit anderer Freiwilligenorganisationen aber auch grosser NGOs logistisch und personell. Daneben unterstützen wir unsere Partner TruckShop beim Betrieb eines Free Social Shops zur Verteilung von Kleidern und anderer Non-Food-Items zuerst im Warehouse und dann an zentraler Lage in der Stadt. Dieser Social Shop richtet sich an all die Flüchtenden, die nun in Wohnungen verstreut über den Grossraum Thessaloniki leben. Die regelmässigen Verteilungen in Camps und anderen Unterkünften sind Teil des Food Projects, das ja von aid hoc mitfinanziert wird und in dem ich in tragender Rolle nach wie vor auch vor Ort mitwirke. Anfangs noch in Kalochori, zwischenzeitlich in Hotels in Giannitsa und im altbekannten Vasilika Camp, durchgehend im riesigen Camp Larissa-Koutsochero und in der Caritas-Unterkunft in Epanomi liefern wir ein- oder zweimal wöchentlich frisches Gemüse und einmal monatlich Trockennahrung und Öl. Diese Unterstützung mit ergänzender, nährstoffreicher Nahrung ist nach wie vor sehr wichtig und gefragt. Ein in seiner Wichtigkeit allerdings nicht zu unterschätzender Nebeneffekt dieser Verteilungen ist der soziale Aspekt dieser regelmässigen Präsenz an abgelegenen und von der Öffentlichkeit weitgehend vergessenen Orten: Es wurde uns bewusst, dass die Bewohner dieser Orte unsere Aufmerksamkeit und den Austausch mit uns extrem schätzen, sodass sich viele Beziehungen schnell intensiviert haben. Infolge dessen haben wir auch begonnen, nach den Verteilungen teils noch kleine Feste für die Kinder auszurichten.

Nora und ich haben Ende Januar als IHA-Koordinatoren die Verantwortung über ein Team von zwischen zehn und zwanzig immer wieder wechselnden Freiwilligen aus ganz Europa und einigen konstanten Mitgliedern, die als Flüchtlinge oder Studierende in Griechenland leben, übernommen. Natürlich tragen wir diese Verantwortung nie alleine – anfangs haben wir mit Karin noch eine dritte Koordinatorin im Bunde und auch sonst entlasten uns Einzelne immer wieder von Teilen der Verantwortung. Unsere Aufgabe besteht darin, die zumeist überwältigende Motivation und die Fähigkeiten all dieser Leute, die als Freiwillige zu uns kommen, möglichst sinnvoll zur Erfüllung unserer Ziele einzusetzen. Wir lernen schnell, dass richtig gute Arbeit nur dann geleistet werden kann, wenn alle (bei Freiwilligen gilt das wohl umso mehr) mit ihrer Arbeit zufrieden sind und sich der Gruppe zugehörig und als Bestandteil davon ernstgenommen fühlen. Nur wer Aufgaben nachvollziehen kann, Abläufe versteht, befähigt ist, den Kontext zu erschliessen, gefordert, aber nicht überfordert wird, leistet Aussergewöhnliches und tut dies auch gerne. Für uns beide rückt die Organisations- und im weitesten Sinne Hintergrundarbeit, die Kommunikation nach innen und aussen und das Pflegen von Netzwerken in den Vordergrund, damit wir alle – als Team – die „echte“ Arbeit, die Hilfeleistung in den Camps und die Vorarbeit im Warehouse leisten können.

Nun, da ich die letzten Zeilen dieses Berichtes schreibe, finde ich mich schon wieder an Bord einer Adriafähre, einmal mehr auf dem Weg nach Griechenland. Meine Aufgabe ist noch nicht beendet. Im Unterschied zu letztem Herbst ist es zwar nach wie vor eine sehr fordernde Aufgabe, bei der ich glücklicherweise die Möglichkeit habe viel Verantwortung zu übernehmen, aber sie ist nicht mehr ganz so kräftezehrend, denn auch die generelle Situation ist nicht mehr so prekär.

Von ganzem Herzen bedanke ich mich bei euch, die ihr aid hoc und mein Engagement mit eurem immer wieder extrem motivierenden Zuspruch und euren grosszügigen Spenden unterstützt. Im Speziellen geht dieser Dank an meine Familie, die stets voll hinter mir steht. Ohne euch wäre das alles nicht möglich!

Ebenfalls ein grosser Dank geht ans aid hoc-Team für die stets freundschaftliche Zusammenarbeit und eure tolle Arbeit zu Hause und in Serbien.

Und natürlich an mein Team vor Ort für eure grossartige Arbeit sowie Moritz (IHA) und Davide (Team Bananas), dafür dass ihr uns stets so tolle Leute vermittelt habt.

28.01.-24.04.-2017