«Ich möchte hoffnungsvoll bleiben»

Seit über einem Jahr ist Jonas Härter vom Verein aid hoc auf der Insel Lesbos und baut, repariert und wartet die sanitären Einrichtungen im überfüllten Flüchtlingscamp Moria. Sein Erfahrungsbericht.

Illustrationen: Arion Gastpar

 

Eine Meldung aus Griechenland, Spätsommer 2019

Es ist schon lange her, seit ich letztmals aus Griechenland berichtet habe, von meiner Arbeit und dem Umfeld, das mich dort umgibt und mich Tag um Tag reicher an Erfahrungen macht. Seit September 2018 bin ich auf der Insel Lesbos und arbeite dort mit Herzblut für die Watershed Stiftung. Wir sind eine kleine, noch junge humanitäre NGO, die sich der Ingenieurs- und Handwerksarbeit im WASH-Bereich (Wasser, sanitäre Einrichtungen, Hygiene) verschrieben hat. Wir bauen auf ein Team von erfahrenen Technikern und Handwerkern, dem ich mich vor einigen Monaten ganz anschliessen durfte, um vor Ort die Verantwortung für die administrative Geschäftsleitung zu übernehmen. Als Organisation bauen, reparieren und warten wir die sanitären Einrichtungen in Moria in Unterstützung der Campverwaltung, helfen die Wasserversorgung und einen sauberen Abfluss des Abwassers sicherzustellen. Dies tun wir aus der Überzeugung und dem humanitären Grundsatz, dass jeder Mensch Zugang zu sauberem Wasser und funktionierenden Toiletten und Duschen haben muss; damit können wir auf einer ganz grundlegenden Ebene mithelfen, das Leben in Flüchtlingscamps etwas würdevoller zu gestalten. Weiterhin engagiere ich mich auch vor Ort für aid hoc und vertrete unseren Verein gegenüber unseren Partnerorganisationen. Zu diesem Zweck reise ich auch immer wieder von Lesbos nach Samos, um sicherzustellen, dass unsere Spenden effektiv zur Verbesserung der Lebensumstände im dortigen Camp eingesetzt werden.

In drei Jahren humanitärer Arbeit in Flüchtlingslagern habe ich viel gesehen und gelernt. So sehr man das vermeiden möchte, gewöhnt sich das Unterbewusstsein an jene Szenerie, die zum eigenen Alltag geworden ist, die aber, wenn man hie und da einen Schritt zurücktritt und mit etwas Abstand auf sie blickt, sich in aller Klarheit zeigt als das, was sie ist: ein Missstand, ein unnötiges und ungerechtfertigtes Elend, dem Menschen, die hier Schutz suchen, jeden Tag und nun schon seit Jahren ausgeliefert sind. Ein Missstand, der allein in diesem Land mehr als 84’000 Menschen betrifft und im Besonderen jene 25’000 und mehr, die auf den ägäischen Inseln direkt an der europäischen Grenze festsitzen (UNHCR Greece Factsheet July 2019, https://data2.unhcr.org/en/documents/details/71038). Ein Missstand, den zu ignorieren und hinzunehmen ich und viele andere schon lange nicht mehr bereit sind. Ein Missstand, dem wir hier mit unserer täglichen Arbeit entgegenzuwirken versuchen. Jene Zahlen, die eine anonyme Masse suggerieren, klingen in Kombination mit einer Sprache, die sich beängstigend in unseren alltäglichen Diskurs eingenistet hat und von ‚Massen‘ oder einem ‚Ansturm‘ redet, nach Gefahr. Ich sehe es als grosses Privileg, dass ich seit 2016 tagtäglich die Gelegenheit habe, diese Suggestion auf ganz persönlicher Ebene in Form von Freundschaften, gegenseitigem Respekt, entgegengebrachtem Vertrauen und Arbeiten Seite an Seite zurückzuweisen und ganz im Gegenteil Chancen zu sehen und Gemeinschaft zu spüren.

Doch sind es gerade im Moment wieder die Zahlen, die meine KollegInnen und mich den Notstand ausrufen lassen und den Zeitpunkt für diesen Aufruf mitbegründen. Denn wir befinden uns in einer Situation, die sich über die Sommermonate zunächst langsam, in den letzten Wochen aber rasant zugespitzt hat zu einem wirklichen Notstand, und mit jedem Tag, der verstreicht, lässt sich zurückhaltendes Schweigen weniger rechtfertigen. Es kommen wieder täglich Flüchtlingsboote auf den griechischen Inseln an: Allein auf Lesbos haben im Juni 1571 und im Juli 2380 Menschen neu Zuflucht gefunden, während in der gleichen Zeit nur wenige Menschen die Insel verlassen konnten. Die Entwicklung war nun im August noch extremer (3865), und am bisher dunkelsten Tag, dem 29.08.19, der an die Zustände von 2015 erinnerte, erreichten innerhalb von nur einer Stunde mehr als 500 Menschen die Küste von Nordlesbos. In Moria, dem Auffanglanger auf Lesbos und grössten Flüchtlingscamp in Europa, finden sich heute mehr als 11’000 Menschen auf der Flucht an einem Ort wieder, der für 3’000 konzipiert ist. In Samos ist die Situation nun fast noch schlimmer als vor einem halben Jahr, als wir uns entschieden hatten, einen substanziellen Teil unserer Ressourcen dort einzusetzen – die Situation hat sich gerade in der letzten Woche nochmals verschärft. Das kleine, ungeeignete Lager auf Samos platzt mit einer beinahe achtfachen Überbelegung (4944 Menschen bei einer Kapazität für 648) aus allen Nähten, und es fehlt an grundlegendster Versorgung. Auch auf Chios, Kos und Leros ist die Situation ähnlich besorgniserregend. In Zeiten, in denen der Amazonas brennt, in der Schweiz Wahlkampf ist und in der EU der Brexit alle Aufmerksamkeit und alle Ressourcen aufsaugt, bleibt oft nur wenig bis gar kein Raum in unseren Medien und unserer Wahrnehmung für ein Thema, das seit 2015 nie aufgehört hat, ein solches zu sein, und das jetzt wieder mehr denn je unserer Aufmerksamkeit bedarf. Erst in den letzten drei, vier Tagen finden sich wieder Berichte und Korrespondentenmeldungen über Lesbos und die anderen griechischen Hotspot-Inseln in internationalen Medien und auch den Zeitungen aus der Heimat. Diese zeigen die letzten Entwicklungen anschaulich auf, stellen diese vergleichend in den Kontext der Situation der letzten Jahre und reflektieren die politischen Implikationen.

Illustrationen: Arion Gastpar

Etwas allerdings wird in diesen Berichten nicht deutlich genug, und es ist auch äusserst schwierig, dies aus der Ferne zu vermitteln: Es sind nicht einfach Zahlen, die unerbittlich grösser werden. Es sind Menschen wie du und ich, die unmittelbar von der Verschärfung der Situation betroffen sind, alte und junge, unendlich viele Familien und solche, die alleine unterwegs sind. So viele, viele, viele Kinder – Kinder, genauso unschuldig wie unsere, aber einer Situation und Unsicherheit ausgesetzt, die wir bei unseren eigenen Kindern niemals akzeptieren und für deren Wohl wir alle ohne Rücksicht kämpfen würden, wären es denn unsere eigenen. Kinder, die auch in inakzeptablen Umständen fast immer Gründe finden, fröhlich zu sein, zu lachen, neugierig alles zu beobachten und überall mithelfen zu wollen. Auch wenn ich mich in drei Jahren an so viele Dinge gewöhnt habe, die in der Schweiz undenkbar wären, auch wenn ich unterdessen eine sehr dicke Haut habe, auch wenn ich Zufriedenheit verspüre über all das, was wir mit unserer Arbeit erreicht haben und über all die Dinge, die im Camp nun etwas besser und würdevoller funktionieren als noch vor einem Jahr, so zerreisst es mich trotzdem noch immer fast, wenn ich frühmorgens das Camp betrete und Familien sehe, die auf dem harten Strassenboden schlafen, weil es nirgends Platz für sie gibt, wenn ich Dreijährige sehe, die in eine kleine Decke gewickelt die Nacht unter freiem Himmel und auf nacktem Boden verbracht haben, einzig von der Wärme der elterlichen Körper zehrend. Nein, das sind Bilder, an die ich mich niemals gewöhnen werde und die ich niemals werde akzeptieren können. Man könnte manchmal die Hoffnung verlieren. Ich möchte aber lieber hoffnungsvoll bleiben – und zu dieser Hoffnung werde ich jeden Tag von Neuem inspiriert durch all diese aufrichtig lächelnden Gesichter im Camp, durch die unglaubliche Stärke und Resilienz, die die Menschen in Moria trotz aller Not auszeichnet.

Wir – Watershed, aid hoc, viele andere Freiwilligenorganisationen, Spendende aus aller Welt, die lokalen Behörden, grosse NGOs – arbeiten vor Ort zusammen, um, so gut es geht, sicherzustellen, dass die grundlegendste Versorgung gedeckt wird. Es fehlt an allem, denn es ist eine stete Herausforderung, mit wenig Ressourcen für immer mehr Menschen zu sorgen. Watershed arbeitet nunmehr seit eineinhalb Jahren daran, die sanitäre Situation in Moria auf ein akzeptables Niveau zu bringen und dieses auch zu halten – und die Arbeit geht noch lange nicht aus. Mit aid hoc versuchen wir, jenen, die auf Samos unermüdlich die medizinische Erstversorgung sicherstellen, die alle Neuankommenden mit Zelten und Schlafsäcken versorgen oder Asylsuchenden Rechtsberatung ermöglichen, zuverlässig mit unseren Spenden zur Seite zu stehen. Noch ganz viele andere Freiwillige und NGOs setzen sich dafür ein, dass die Leute ein (Zelt-)Dach über dem Kopf haben, genügend Essen und Zugang zu den grundlegendsten Dingen erhalten, dass Kinder eine Möglichkeit haben, ihre Schulbildung auch auf der Flucht weiterzuführen. Die lokale Bevölkerung auf den Inseln wird mit jedem zusätzlichen Boot, das dort ankommt, noch mehr geprüft und von Resteuropa allein gelassen. Und für die Flüchtenden selbst wird die Situation, solange die derzeitige Entwicklung weitergeht, immer schwieriger zu tragen, und auch dieses Jahr wird der Winter kommen und noch grössere Herausforderungen mit sich bringen. Griechenland, das hier an der östlichen Aussengrenze ein gesamteuropäisches Problem stemmt, ruft zurecht nach mehr realer europäischer Solidarität.

Auch ich möchte mir erlauben, nach Solidarität zu rufen. Unsere Arbeit baut darauf, dass wir ideell und materiell unterstützt werden. Sie baut auf Spenden, finanziell wie materiell, und auf den Einsatz von Freiwilligen, die hier nach wie vor einen Grossteil der Arbeit leisten. Jede Spende macht einen Unterschied in der derzeitigen Notsituation, und jeder gut geplante, sinnvolle Einsatz sowieso. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch gerne eine Kommunikationsmöglichkeit bieten für all jene, die Fragen haben, wie sie mithelfen können, oder ganz generell zur Situation der Flüchtenden in Griechenland. Wer möchte, schreibe mir doch eine Email auf jonas.haerter@aidhoc.org und gebe mir etwas Zeit, eine Antwort zu schreiben.

 

Für Spenden an aid hoc, die in Samos eingesetzt werden:
IBAN: CH30 8000 5000 0546 4499 1
Zahlungszweck: Spende von Name, Email
Kontoinhaber: Verein aid hoc
Adresse: Parkstrasse 16, 9000 St. Gallen
Bank: Raiffeisen St. Gallen
Postkonto: 90-788788-7
Verein aid hoc ist eine gemeinnützige Organisation und Spenden an uns sind in der Schweiz steuerbefreit.

Für Spenden an die Watershed Stiftung, um sicherzustellen, dass Menschen in Moria (Lesbos) Zugang zu anständigen Toiletten und Duschen haben:
IBAN: DE47 3806 0186 4530 7060 15
Zahlungszweck: Spende von Name, Email
Kontoinhaber: Watershed Stiftung
Adresse: Im Zollhafen 24, 50678 Köln
Bank: Volksbank Köln Bonn eG
Die Watershed Stiftung ist eine gemeinnützige Organisation und Spenden an uns sind in der EU steuerbefreit.